Gedanken von Oliver Mehler zum ZenPeacemaker-Retreat „Mut und Herzensgüte“, 12.-17.10.2020, geleitet von Barbara Salaam Wegmüller Roshi
Ich war gerade dabei, gedanklich aus der Anderswelt in die reale Welt zurückzukommen. Drei Tage zuvor hatte ich mit einigen Zuhörern eine Wanderung im Wald unternommen, bei der ich zum irisch-keltischen Fest Samhain keltische Geschichten erzählt hatte. Dies sind Geschichten, die von der Begegnung mit der sogenannten Anderswelt berichten, eine Welt in der mythologische Wesen und weise Feen leben. Und zuweilen nehmen die Wesen der Anderswelt Menschen mit in das Reich absoluter Glückseligkeit, aber die Feen können auch die Menschen in die Tiefen einer sehnsuchtsvollen Traurigkeit stürzen lassen.
Ich befand mich also noch ein wenig im Rausch meiner selbst erzählten Geschichten, als mein Dharmafreund Jörg an mich herantrat mit der Bitte, einen Erfahrungsbericht über unser gemeinsam vor eineinhalb Wochen besuchtes Zen-Peacemaker Retreat zu verfassen.
Als ich darüber nachdachte, was ich denn schreiben könne, fielen mir zu meinem eigenen Erstaunen eine Menge Parallelen zwischen der sagenhaften Anderswelt und einem Zen-Peacemaker Retreat auf.
Dies fängt schon bei den Räumlichkeiten des Retreats an, das Seminarhaus Engl in Südost-Bayern. Ein herrlich zwischen Feldern und Wäldern gelegener ehemaliger Aussiedler-Bauernhof. Eines der Hofgebäude wurde zum Seminarhaus umgebaut. Dort befindet sich im Erdgeschoss der gemütliche Speisesaal und der Meditationsraum, der mit seinem Gewölbe eher an eine geheimnisumwitterte Krypta erinnert. In den beiden Stockwerken darüber sind die Gästezimmer zu finden, die einfach aber sehr gemütlich sind. Und dann nicht zuletzt die absolute Stille und Dunkelheit in der Nacht und das stille Beisammensein mit der Frau, die mit mir ist, Angelika, taten von Anfang an meiner Seele so gut, dass ich fast schon hätte glauben können, das Land der Glückseligkeit erreicht zu haben.
Nach einer Begrüßungsrunde ging es dann am ersten Abend ins Schweigen. Und dann wurde es wirklich still, nicht nur draußen um das Haus herum, sondern auch im Haus und in mir selbst, mit jedem Tag der Meditation ein wenig mehr.
Wer jetzt aber erwartet hatte, dass im Retreat von nun an nur noch Stille herrschen würde, der sah sich allerdings getäuscht. Denn bei einem Zen-Peacemaker Retreat wird nicht nur geschwiegen.
Nach drei Meditationssitzungen, die bereits um 6:30 Uhr begannen, und einem stärkenden Frühstück, gab es an jedem Vormittag einen Dharmavortrag. Dabei hatte die Retreatleiterin Roshi Barbara Salaam Angyo Wegmüller als Leitfaden durch die Vorträge das Thema „Mut und Herzensgüte“ für dieses Retreat ausgesucht. Aus diesen Vorträgen habe ich mitgenommen, dass es wichtig ist, Herzensgüte in Meditation und Kontemplation zu üben, aber nicht nur zum eigenen Wohl, sondern auch als wichtige und unerlässliche Basis für unser Handeln. Und es gibt viel auf dieser Welt, wo unser Handeln gefragt ist: Klimakrise, Artensterben, Kriege, Armut, Obdachlosigkeit, etc. Und gerade die Zen-Peacemaker-Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft Praktizierender, in der die Mitglieder nicht nur die Erlösung von ihrem eigenem Leiden anstreben, sondern sich aktiv engagieren in sozialen und friedenstiftenden Projekten.
Die Dharma-Vorträge von Barbara haben mich tief berührt und aufgerüttelt. Und so kam in mir die Frage auf: ist Barbara nicht die weise Fee aus der Anderswelt?
Mit tiefer Freude und Dankbarkeit erfüllte es mich auch, dass ich bei diesem Retreat in Piet, der im Haus Engl lebt und arbeitet, einen Dharma-Musiker-Freund getroffen habe. Es war eine sehr schöne Erfahrung für mich mit einem tollen Musiker, spontan – gut nicht ganz spontan, ein wenig hatten wir uns abgesprochen – Musik zur Meditation zu machen. Ich hatte meine keltische Harfe mitgenommen und Piet holte aus seinem Fundus an Instrumenten eine Trommel, eine Mokugyo und seine schöne Stimme hervor. Ich denke es bedarf hier keiner weiteren Erklärung: keltische Harfe, Harfenmusik, schöner Gesang, da war sie wieder, die märchenhafte Anderswelt.
Die größte Freude war mir aber dabei, dass ich in den Gesichtern der anderen Teilnehmer lesen konnte, dass wir ihnen mit unserer Musik offenbar eine Freude bereiten konnten.
Am meisten bewegten mich aber die täglich am Nachmittag stattfindenden Councils, die Kreisgespräche. Ich empfinde es als ein wunderbares Phänomen, in welcher Offenheit es bei diesen Gesprächen allen Teilnehmern möglich war, tief aus ihrem Herzen heraus zu sprechen.
So kam ich mir dabei tatsächlich vor wie in einer anderen Welt. Aber war ich das? Ist nicht auch die Anderswelt der keltischen Sagen in Wahrheit Ausdruck unserer verborgenen eigenen Seite, ein Teil unseres selbst, dessen wir im Alltag nicht gewahr werden. Und ist nicht das, was in den Kreisgesprächen aus uns heraus zu Tage tritt, einfach eine andere Seite in uns, die ganz real ist. In diesen Gesprächen können Dinge in einer absolut vertraulichen Atmosphäre gesagt werden, die wir sonst nur schwer zum Ausdruck bringen können, etwas, was tief in unserem Inneren ist. Das ist nicht immer schön. Ich habe Geschichten von tiefer Traurigkeit und großem Leid gehört. Aber diese Geschichten sind es, die Mitgefühl in mir wecken, und manchmal habe ich gerade dann das Gefühl, dass es gar nicht mehr ein so großer Schritt ist, hinter dem Leid etwas Tieferes zu entdecken, und das ist Herzensgüte, Vertrauen, Mut, Frieden und Liebe.