Angesichts der Geschehnisse im Osten unseres Kontinents gab ich vor ein paar Tagen meinem Bedürfnis als Nach-Kriegs-Geborener nach, und schrieb einen Text, der mir wieder die transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumata vor Augen führt. Ich lasse euch mitlesen:

Eine zweifelhafte Verbindung

Es ist Samstag, der 05. März 2022.
Vor 10 Tagen, am 24. Februar 2022 hat Wladimir Putin, Präsident Russlands, seinen Truppen den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine gegeben.
Schon über viele Wochen davor hat seine Armee, als Manöver getarnt, die Ukraine im Süden, Osten und Nordosten umlagert, direkt in der Nähe der Grenze. Noch kurz vor dem Einmarsch ließ er Truppen in Belarus, geduldet von seinem Vasallen Lukaschenko, stationieren, um somit auch von Norden Zugang zum Nachbarland zu ermöglichen. Lediglich der Westen und der Südwesten grenzen an Länder der westlichen Staaten wie Polen, Slowakei, Rumänien.

Mit Beginn dieses Krieges mache ich mir Gedanken, was diesen Despoten, der über die gesamte Zeit seiner Herrschaft die restliche Welt belogen hat, antreiben mag.
Vieles wird diskutiert seitdem, angefangen bei maßlosem Neid auf die freie Welt, Wut über den Zusammenbruch der Sowjetunion vor mehr als 30 Jahren, Kränkungen und frühkindliche Erlebnisse in seiner Herkunftsfamilie, in der er mehrere Geschwister verloren hat.

Putin ist 1952 in St. Petersburg, dem ehemaligen Leningrad geboren.
Er ist damit ein Nachkriegskind, genauso wie ich als 1955 Geborener. Meine Lebensgeschichte hat mir gezeigt, untermauert durch den Bericht der WAST von 2011 über den militärischen Werdegang meines Vaters, das dessen Kriegstrauma sich auf zerstörerische Weise in unserer Familie ausgewirkt hat, in meinem Fall und in dem meines ältesten Bruders darin dass wir schon früher Jugend alkoholabhängig wurden. Ich selber fand meinen Weg ins Leben erst mit 34 Jahren, als ich meinen Alkoholmissbrauch stoppen konnte. Ich war damals kurz davor mich aufzugeben.
Aus den Unterlagen der WAST, die ich in 2010 angefordert hatte und die mich am 21.06.2011 per Brief erreichten, ging hervor, dass mein Vater Soldat der Wehrmacht während des Russlandfeldzugs (der um den 20.06.1941 begann) gewesen war. 70 Jahre bevor die Antwort aus Berlin mich erreichte wurde er in Marsch gesetzt in Richtung Baltikum und weiter in die Region Leningrad, die ab dem Herbst 1941 über 900 Tage von deutschen Truppen belagert, von der Versorgung abgeschnitten und beschossen wurde. Während dieser als Blockade Leningrads bekannt gewordenen Belagerung kamen rund eine Million Menschen ums Leben (die Stadt hatte damals schon 3,5 Millionen Einwohner).

An dieser Stelle beginnt das, was ich heute als etwas erkenne, das mich mit Wladimir Putin verbindet:
Er ist Nachkriegskind, geboren in Leningrad, Sohn von Eltern die wahrscheinlich die Blockade, an der mein Vater beteiligt war, erlebt und überlebt haben müssen.
Wir haben also beide aus dem Wissen um transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumata etwas gemeinsam.

Daher bin ich überzeugt, dass sich die Last der Erlebnisse seiner Eltern auch auf ihn übertragen hat. Es ist meine alleinige Wahrheit, die sich aus der Aufarbeitung meiner eigenen Geschichte nährt.
In den letzten Tagen und ganz besonders heute sprechen die Nachrichten aus der Ukraine davon, dass die Hafenstadt Mariupol, am Schwarzen Meer gelegen, von den russischen Truppen blockiert, das heißt von Wasser, Strom, Nahrungsmittelnachschub abgeschnitten wurde! Die Bevölkerung wurde heute aufgefordert, über einen geöffneten Korridor die Stadt zu verlassen, damit die russischen Truppen sie einnehmen können. Hunderttausende werden herausgetrieben. Allerdings kommen Nachrichten, dass die Menschen, die sich an Sammelpunkten treffen, dort und in stadtauswärts fahrenden Bussen beschossen werden.
Es ist das Szenario, das dem der Blockade Leningrads vor 80 Jahren sehr ähnlich ist.

Er und ich – wir stehen auf verschiedenen Seiten – sind als Menschen im Schicksal der Nachkriegskinder verbunden, zum großen Unglück ist er gerade derjenige, der die Blockade seiner Heimatstadt reinszeniert.
Es gibt diese Verbindung, sie macht mich nicht glücklich und sein Handeln bringt Tod, Verderben und großes Leid, aber in gewisser Weise kann ich verstehen, dass er so handelt wie er es tut.
Ich fürchte, Wladimir Putin wird nicht eher aufhören bis er die Ukraine besiegt und unterworfen hat. Viele Menschen werden noch sterben auf diese Weise, auf beiden Seiten.
Die Soldaten, die er ins Feld schickt, sind in gewisser Weise Söhne und Enkel meines Vaters, junge Männer die Befehle befolgen, und die genau wie er damals für ein teuflisches Vorhaben in den Krieg ziehen.

Mögen alle Wesen frei sein von Leid, mögen wir Frieden finden und ihn leben!

Reiner Seido Hühner, 07. März 2022