Gestern habe ich euch den Ursprung meiner 2024er Kontemplationen zum Reinigungs-/ReueVers erzählt. Hier zunächst noch einmal etwas zur Geschichte dieses Verses:
„… Der Vers ist Teil der Reue-Zeremonie Ryaku Fusatsu, wobei Ryaku ‚einfach‘ bedeutet und Fusatsu mit ‚eine gute Praxis fortsetzen‘ oder ‚den schädlichen Handlungen ein Ende machen‘ übersetzt werden kann. Die Reue-Zeremonie ist eine der ältesten Zeremonien, die auf die Lebzeiten von Shakyamuni Buddha zurückgeht. Damals versammelte sich die ganze Sangha und rezitierte alle Gebote. Darauf bekannte sich jeder Mönch und jede Nonne öffentlich zu begangenen Verstößen und den übertretenen Geboten und praktizierte dann die Reue. Diese Zeremonie fand jeden Monat, am Abend des Vollmondes statt. Ihr Ursprung liegt in den Reinigungszeremonien der Brahmanen, die bereits lange vor der Zeit Shakyamuni Buddhas praktiziert wurden. Sie wurde von Indien über China nach Japan weitergegeben, wo sie noch heute in allen Tempeln praktiziert wird, auch anlässlich der Weitergabe der Gebote, der Jukai-Zeremonie.“ (Study Buddhism / Alexander-Berzin-Archiv)
… also ein Ritual der Selbstschulung, um sich im Einhalten oder Verkörpern ethischer Richtlinien zu verbessern. In der oben genannten Quelle wird diese Praxis noch einmal mit anderen Worten kommentiert:
„Betrachten wir all die Fehler und Missverständnisse, die uns in unserem gesamten Leben unterlaufen sind, dann hören wir damit auf, Dinge unverhältnismäßig zu sehen. Nicht mit Schuldgefühlen, sondern mit Vergebung entschließen wir uns, die Handlungen nicht zu wiederholen.“
Mit dieser Entschlossenheit im Sinn hier nun noch einmal die aktuelle Version des Verses, mit der ich derzeit meditiere, als Fließtext:
„Alles Zerstörerische, das wir als Menschheit* in die Welt gebracht haben mit unserem Nicht-Wahrhaben von Vergänglichkeit und AllverbundenSein, mit Gier, Hass, Verblendung, wie wir sie in unserem Tun, unseren Worten und Gedanken verbreiten, und alle Auswirkungen davon erkenne ich an. Ich stelle mich in die Mitverantwortung. Mein Herz öffnet sich dem Leiden, das daraus entstanden ist und täglich neu entsteht. Ich will JETZT, immer mehr, Teil der Lösung sein.“
Einige Gedanken zur ersten Zeile: Alles Zerstörerische, das wir je in die Welt gebracht haben… (ha, hier schon wieder eine Variation zu der Version oben! Es verändert sich laufend…):
Statt sich auf „schlechtes“ oder „ungelöstes Karma“ zu beziehen, wie es in älteren Versionen am Anfang des Verses geschieht, bricht sich hier das Bedürfnis Bahn, die Wirkung unseres Handelns in der Welt radikal, auch unangenehm beim Namen zu nennen: Es ist in weiten Teilen zerstörerisch. Ein Begriff, der mich selbst während der inneren Rezitation immer wieder erschreckt, und also: wach macht.
Dann das erste WIR (statt im UrsprungsVers „das ICH je verursacht habe“). WIR als Kollektiv, WIR als Spezies Mensch – gleich hier katapultierte mich diese kleine Veränderung des Personalpronomens aus der individuellen Kleinheit und Selbstbeschuldigung hinein in die Ungeheuerlichkeit dessen, was wir als Menschheit durch alle Zeiten des Existierens unserer Gattung getan haben. Doch Differenzierung ist angebracht: WIR ist, wenn es um Zerstörung geht, eher der Teil der Menschheit, der im globalen Norden siedelt; eher der Teil der Menschheit, der herrscht und über die eigenen Verhältnisse lebt. Der Teil der Menschheit, der die Gesetze der Selbstorganisation unseres Planeten derart missachtet hat, dass tatsächlich von Zerstörung gesprochen werden kann (muss?). Auch war dieser Teil der Menschheit nicht zu allen Zeiten rundweg zerstörerisch – nicht so „effektiv zerstörerisch“ wie in der Neuzeit. Insbesondere in den letzten 200 Jahren, seit dem Zeitalter der Industrialisierung, die wir zur maschinellen Ausbeutung der Ressourcen unseres Planeten genutzt haben, haben wir Maß und Gespür für natürliche Grenzen verloren. Jetzt sind wir gar zu viele geworden und verbrauchen bereits die Ressourcen von fast zwei Erden pro Jahr. (Und WIR heißt hier: Sowohl die, die dies ganz praktisch mit ihren Maschinen und ihrer Gier tun, als auch die, die davon gedankenlos profitieren und ihren Lebensstil auf Kosten des globalen Südens unhinterfragt weiterführen.) Wie „wir“ durch unsere Taten, unser Umgehen mit Mitgliedern unserer eigenen Spezies, mit anderen Arten von Lebewesen, mit den Elementen unseres Lebensraums (Wasser, Boden, Luft, Wärme) und sogar schon mit dem Weltall, in dem dieser Planeten sich dreht, massenhaft ungelöstes Karma verursacht und geschaffen haben – dies erreicht mich und spüre ich, wenn ich diese erste Zeile rezitiere.
Liebe Kathleen,
hab vielen Dank für Deine Gedanken und Deine Praxis, die Du zum Jahreswechsel hier mit uns teilst. Ich bin von diesen Überlegungen tief betroffen und habe auch heute schon damit begonnen, den „neuen“ Vers mit in meine Sitzpraxis zu nehmen.
„Ich“ UND „Wir“ tragen Verantwortung – sowohl für das Zerstörerische in unserem Tun und Denken (das sich auch im Nicht-Tun und Denkverbot manifestieren kann), als auch für die zu jeder Zeit und an jedem Ort dieser Erde immer mögliche Gegenbewegung mit dem Ziel einer Heilung (von uns, der Natur, dem Ökosystem Erde). Insofern gehören ja die beiden Pespektiven untrennbar zusammen.
Ich würde mir wünschen, Kathleen, mit Dir und anderen in den kommenden Monaten ein auf diesen beiden Formeln beruhendes Retreat (in Präsenz und/oder online) durchführen zu dürfen. Was hältst Du von der Idee?
Liebe Grüße aus Jena,
Michael