Willkommen zum vierten und vorletzten Teil der Kontemplationen zum Reinigungs-/ReueVers. Zur Orientierung darüber, wo wir uns gerade befinden, zu Anfang noch einmal die komplette aktuelle Version des Verses, mit der ich derzeit meditiere:
„Alles Zerstörerische, das wir als Menschheit je in die Welt gebracht haben mit unserem Nicht-Wahrhaben von Vergänglichkeit und AllverbundenSein, mit Gier, Hass, Verblendung, wie wir sie in unserem Tun, unseren Worten und Gedanken verbreiten, und alle Auswirkungen davon erkenne ich an. Ich stelle mich in die Mitverantwortung. Mein Herz öffnet sich dem Leiden, das daraus entstanden ist und täglich neu entsteht. Ich will JETZT, immer mehr, Teil der Lösung sein.“
Hier ein paar Überlegungen zum zweiten Teil des Verses::
… erkenne ich an. Ich stelle mich in die MitVerantwortung….
Nach den vielen Reizwörtern des ersten Teils, die innerlich Widerstand, Rebellion, Gefühle des Überwältigtseins oder der Verzweiflung hervorrufen können (Zerstörung, die ganze Menschheit, Gier, Hass, Verblendung, endlos hervorgebracht…), findet hier eine stille Implosion statt: Das ist alles so ablehnenswert, so schrecklich – doch die Praxis des Zeugnis-Ablegens hat uns gelehrt, erst einmal einfach zu sehen, was ist. DAS ist mit Anerkennen gemeint – nicht EinverstandenSein. Dies alles sehen, nicht wegschauen, nicht weglaufen, nicht leugnen. Dies ist der Moment, vom WIR zum ICH zurückzukehren, denn diese Aus- und Zusagen kann ich nur persönlich machen, diese Selbstverpflichtungen kann ich nur für mich eingehen. Eigenverantwortung ist unumgänglich. Hier stehe ich und sage: Ja, so ist es. Auch wenn es weh tut. Und dies nicht nur „von außen“, als distanzierte Beobachterin, nicht mal nur vom Rande her: Nein, ich mache den Schritt in den Kreis dessen, was ist, stelle mich hinein in die systemische Mitveranstwortung für das, was wir als (industrialisierter, die Nordhalbkugel bewohnender Teil der) Menschheit dem Lebendigen antun. – In jeder neuen Meditation des Verses mache ich im Körpererleben tatsächlich einen Schritt. Nicht fort von all dem Schwierigen und Schrecklichen. Sondern darauf zu.
… Mein Herz öffnet sich dem Leiden, das daraus entstanden ist und täglich neu entsteht …
Dann, wenn ich mittendrin stehe, die Anforderung des Hinschauens mir fast den Atem raubt – dann öffnet sich mein Herz. Der Wunsch davonzulaufen oder „die anderen“ für ihr schädliches Verhalten zu bestrafen verwandelt sich in Mitgefühl. Statt vom Schrecklichen mich einschüchtern zu lassen, wird mein Herz riesig weit, wächst mit dem gewaltigen Ausmaß an Leid, das diese menschlichen Verhaltensweisen verursacht haben. Bis heute – und, keine schöne Nachricht: täglich neu. Heute. Auch morgen, übermorgen. Das ganze neue Jahr 2025 hindurch, das ist absehbar… Mein Herz schmerzt, doch es bleibt offen und ist fähig, dem Strom des Leidens einen Strom des Mitfühlens beizugeben.
Das Wort „bereuen“ (wie es im ursprünglichen Vers an dieser Stelle heißt) hat selten eine wirklich tiefe emotionale Wirkung auf mich gehabt – vielleicht doch zu viel selbstbezichtigende, lähmende Sozialisation im christlichen Kulturkontext. Hier, was diesen zweiten Teil des Verses angeht, habe ich einen Vier-Schritt beobachtet, der meine innere Bewegung einigermaßen abbildet:
Schritt 1: Ich beginne mit dem Anerkennen all dessen, was ich vorher benannt habe. Ich leugne es nicht mehr, ich laufe nicht davor weg, ich bleibe und schaue mit offenen Augen hin.
Schritt 2:: Ich lasse das alles an mich heran, trete näher und mitten hinein („… Ich stelle mich in die MitVerantwortung …„). Ja, ICH als Teil dieses WIR trage (mit) Verantwortung für die Zerstörung, die die Spezies Mensch auf diesem Planeten angerichtet hat. Ich verstehe dies und lasse es auf mich wirken.
Schritt 3: Nicht nur mein Geist, meine Einsicht erkennt an und tritt in die Verantwortung ein – auch mein Nervensystem, mein Empfinden, mein Schmerzkörper ist aktiviert („… mein Herz öffnet sich dem Leiden…“): Ich lasse mich spüren, was Zerstörung und schädliches Verhalten anrichten; ich stelle mich, meinen Organismus als Sensorium zur Verfügung, als Seismograph des Leidens; ich gebe meiner Verzweiflung, Trauer, Einsamkeit, Hilflosigkeit Raum (auch stellvertretend für die, die keinen Raum dafür haben, weil sie um ihr Überleben kämpfen oder diesen Kampf schon verloren haben).
Was, wenn unser Mitgefühl (und das unserer MitWesen) genauso unerschöpflich ist wie unser Leiden (und das unser MitWesen)?
(Diese 3 hier beschriebenen Schritte machen übrigens für mich ZeugnisAblegen aus. – Schritt 4 erläutere ich morgen im letzten Teil dieser kleinen Serie.)