Nachdenklichkeiten von Ute-Christiane Bräuer zum ZenPeacemaker-Retreat „Mut und Herzensgüte“, 12.-17.10.2020, geleitet von Barbara Salaam Wegmüller Roshi
Selbst wenn du alle Winkel des Universums aufsuchst, wirst du keinem einzigen Wesen begegnen, das mehr Herzensgüte verdient hätte als du selbst. (Worte von Buddha im Samyutta Nikaya)
Dies ist der Satz, der uns von Anfang an durch das gesamte Retreat begleiten sollte. Die Sehnsucht von Vielen: Wie kann es gelingen, gerade in diesen Zeiten mit einem offenen Herzen in der Welt zu sein? In dieser Woche verstanden wir aufs Neue den Kern der Bodhisattva-Lehre, dass nämlich die unabdingbare Basis für die Herzensgüte das Mitgefühl mit uns selbst ist.
Gemeinsam wanderten wir also nach der Art der ZenPeacemaker durch die Räume des Nicht-Wissens, erfuhren sie als besondere Orte, wo Trennung aufhört und wir uns plötzlich nah sind. Wir erlebten Momente des Einswerdens mit der Situation, von denen wir die kostbare Gelegenheit hatten täglich im Zenkreis Zeugnis abzulegen. Immer wieder sprangen bei mir Schubladen auf, die einen neuen Blick auf das innere Geschehen und das Weltgeschehen ermöglichten. Wir teilten unkonventionelle Wahrheiten, wo Elend, Schmerz und Verzweiflung, aber auch unmittelbare Freude und Erfahrungen tiefen Glücks und der Dankbarkeit eng beieinander standen. Und es kostete manchmal Mut in den offenen Raum hinein zu sprechen, ohne dass eine Antwort oder unmittelbare Resonanz erfolgte, dennoch miteinander verbunden in dem Vertrauen auf die offenen Herzen im Kreis.
Dem Beispiel Bernie Glassmanns folgend – es gibt keine Zeit zu verlieren! -, wendeten wir uns in den Meditationen und in unserem gemeinsamen Forschen gleich den Hungergeistern zu, statt zu versuchen, das innere Kind zu pampern, um schnellstmöglich erst mal selbst an den guten heilenden Platz zu gelangen. Das Aushalten und Halten des Ungelösten, Ohnmächtigen aber ist schon immer wieder eine große Herausforderung für uns Menschen. Oft gehen wir in die Reaktion.
Zuweilen kann uns aber auch, erinnert uns Barbara, ein gerechter Zorn ergreifen, wie ein Sturm, der uns durchschüttelt und Energie zum Handeln mitbringt. Zum Beispiel wenn wir uns das Schreien der Bäume beim Fällen nicht nur in den Wäldern des Amazonas vergegenwärtigen, die täglich der Profitgier zum Opfer fallen. Oder wenn wir uns unsere Tierfabriken vor Augen führen, die wir als eine Spielart von Auschwitz heute begreifen können (so formulierte es ein Schweizer Politiker). Oder wo überall in der Welt, ausgelöst durch Raffgier, Hass und viele Missverständnisse, die Situation von Krieg und Zerstörung entstanden ist, die täglich Millionen von Menschen tötet, traumatisiert und einem Leben mit Hunger und Flucht aussetzt.
Wenn wir alle eins sind – dann wäre ich ja auch Teil von diesem elenden Schatten?
Drängen uns Erfahrungen wie diese, die uns während des Retreats immer wieder plastisch vor Augen geführt werden, zur Handlung? Können wir das bequeme Gefängnis unserer Angst, unsere „Man kann doch sowieso nichts machen“-Haltung verlassen? Und wo genau ist da mein Platz? Aufgewachsen mit Schuldzuweisung und Vorwurf – was ist da überhaupt eine Handlung, die nicht Reaktion ist, nicht darauf ausgerichtet, etwas loszuwerden? Eine Geste, die in Liebe einschließt statt auszuschließen, die Begegnung auf gleicher Augenhöhe ermöglicht, und das bei all den Unterschieden?
Ein Dharmatalk von Barbara Salaam handelte vom Erwachsenwerden. Sie zitiert dazu folgendes Statement aus einem Gedicht von J. Welwood: „Die Unbeständigkeit ist das einzige Versprechen des Lebens an uns, und es hält dieses Versprechen mit skrupelloser Unerbittlichkeit. Hören wir auf, Abmachungen für eine sichere Überfahrt zu treffen, es gibt sowieso keine…“ Der radikale Ruf an uns, endlich erwachsen zu werden, hat mich geweckt und aufgerüttelt. Die Blätter fallen, die Bäume fallen, auch ich werde fallen. Tun wir, was wir tun können, um das Leben jetzt zu feiern. Eine auftauchende Entschiedenheit am jungen Morgen… – ein paar Stunden später stehe ich erneut vor den eigenen Ego-Mauern. Bedauern, Ratlosigkeit, das Nicht-Wissen, das sich so intim anfühlen kann, wenn ich mich darauf einlasse, und das doch ein oft sprachloser Raum ist. Ich merke, ich habe Wortfindungsschwierigkeiten, kann nicht ausdrücken, was ich sagen will, und teile mit Vielen die Erfahrung, mich mal wieder in der Fremde zu fühlen. Bin ich da bereit, mich auch noch freiwillig ungewohnten, unbequemen Situationen auszusetzen? Situationen, die mein Bild von mir selbst erschüttern, mich herausfordern, ins kalte Wasser zu springen?- Zwischen Sehnsucht und Zögern aufgespannt, mal wieder!
Und mitten hinein in diese Prozesse verweben sich die Klänge einer Harfe, die aus einem anderen Universum aufzutauchen scheint und auf direktem Weg in mein Herz zurück führt. Manchmal kommt eine Trommel dazu, eine Stimme, die ruhig und klar den Puls hält, in der Stille verhallt und mich mit einer neuen Wachheit des Lauschens zurücklässt.
Den letzten Vortrag hat Piet gehalten. Er handelte von seinem Mut, er selbst zu sein. Wie einfach es sein kann, wenn wir uns in unser Sein entspannen. Er spielte uns ein Lied am Ende. Der Refrain „Don’t take my softness for weakness“ hat mich berührt. Auch hier, wie beim Harfenspiel, begegnete ich einem Mann, der den Mut hat, zu seinen weiblichen Werten zu stehen. Hatte nicht Barbara zuvor an die Worte des Dalai Lama erinnert, dass, wenn nicht die weibliche Energie bald übernimmt, wir die Welt vergessen können? Ein großer Plan; vielleicht kann er gelingen. Jedenfalls bin ich freudig dabei.
Zu nennen als nicht zu vernachlässigende Elemente des Retreats wären dann da noch: das sorgfältige tägliche Putzen unseres Badezimmers, Corona-angepasst natürlich, mit viel Desinfektionsmittel; die wunderbaren ChiGong-Übungen mit den klangvollen Namen; die Spaziergänge durch tropfnasse Wälder, in denen auf grünen Teppichen Riesenschirmlinge aus dem Boden schossen. Und apropos weibliche Werte: Die Liebe, mit der die Frauen die Mahlzeiten täglich frisch zubereitet haben, konnte ich förmlich schmecken, während das in Stille eingenommene Essen mir auch die Begegnung bei einem Blick über den langen Tisch, das Geschmackserlebnis der Suppe oder einfach das ruhige Verweilen an einem inneren Ort nahe legte. „Mögen wir genährt sein, um das Leben zu nähren“: Worte die wir täglich im Tischgebet gemeinsam sprachen.
Im Retreat hat es niemals gefehlt an reichlich Nahrung für Leib und Seele, und das inmitten dieses wilden, unerbittlichen Daseins. Dank dir, Salaam! Dank euch allen.