Was für Tage! Schockstarre, Schmerz, Ungläubigkeit, Verwirrung, Zorn und Genugtuung, Siegesgewissheit, Entschiedenheit mit zusammengebissenen Zähnen – Veränderungen drastischer Art lösen drastische Gefühle aus. Spezielle Aufwallungen in diesen Novembertagen, in denen an einem Morgen die große Demokratie abgewählt scheint und hier im Lande die Regierung in sich zusammenfällt; die Wahrnehmung ist geschärft durch die in unseren Zellen gespeicherte Geschichte – allein das Zusammenkommen von Reichsprogromnacht 9.11.1938 und Mauerüberwindung 9.11.1989 in Deutschland…
Und doch: Tage wie du und ich, wie vorgestern und übermorgen.
Eine Freundin, die als Hebamme in der Welt unterwegs und gerade aus Chile und Brasilien in die USA zurückgekehrt ist, sagt gestern abend im Kreis der Frauen: „Ich war geschockt und verzweifelt, als ich letzten Mittwoch die Nachrichten über das Wahlergebnis hörte. Meine Partnerinnen in Chile zuckten die Schultern und sagten: ‚Wir haben Pinochet überlebt; dann kriegt ihr das auch hin‘, und am nächsten Tag in Brasilien hörte ich: ‚Wir haben Bolsonaro überstanden und wieder abgewählt – macht das doch auch.‘ Es hilft also, andere Perspektiven einzunehmen…“
Ein Lied über die Elemente, Tränen über eine misslingende Mutter-Tochter-Beziehung, Erinnerungen an den Eisernen Vorhang, Verbundenheit durch (sich-mit-)Teilen in der Runde, zu der sich Frauen aus den USA, Spanien, Schweden, Bermuda und Deutschland zusammenfanden. Es irritiert unser Nervensystem und unseren Gefühlshaushalt – zugleich: Die 3 Grundsätze bleiben, und so viele hilfreiche Mittel, die die Praxis uns zu bieten hat.
Dieses Bitt-Gedicht von Hilde Domin bildete den Abschluss unseres Frauenkreises:
Wir werden eingetaucht
und mit den Wassern der Sintflut gewaschen
Wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut
Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht
Es taugt die Bitte
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
dass die Frucht so bunt wie die Blume sei
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden
und dass wir aus der Flut
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden