Zeugnis ablegen, auch vier Jahre danach noch und wieder!
Bereits im September 2023 und im Mai 2024 habe ich über die ersten beiden EcoDharma-Pilgerwege im von der Flutkatastrophe (14./15. Juli 2021) berichtet.
Die Gruppe, die sich in diesen Jahren um die Initiatorin Svenja Wildflower Hollweg zusammengefunden hatte, war schon länger wieder mit der Idee unterwegs, nicht nachzulassen und doch, nach dem Verwerfen anderer Ideen, noch einmal ins Ahrtal zurückzukehren.
Da Svenja sich für dieses Jahr aus ihrer Rolle und der Teilnahme zurückgenommen hatte, entschieden wir gemeinsam, uns erneut auf den Weg zu machen und dieses Mal eine städtische betroffene Region (Bad Neuenahr und Ahrweiler) anzusteuern.
Ich hatte mich bereit erklärt, mit vorbereitenden Planungen zu starten, und so stand unser Programm nach einigen intensiven Vorgesprächen innerhalb der Gruppe fest.
Angereist aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden fanden wir uns nach und nach am Freitag, dem 12. September, in Bad Neuenahr im Garten von Sabine ein. Sie hatte sich bereit erklärt, uns für die drei Tage/zwei Nächte ein Quartier zu bieten, von dem aus wir unsere Pläne realisieren konnten. So logierten wir unter Obstbäumen in kleinen Zelten und unter Tarps, hatten im Keller des Hauses ein Bad zur Verfügung und konnten auf der Terrasse unsere morgendlichen Meditationen und komfortabel unsere Mahlzeiten einnehmen.
Sabine luden wir ein, bei unserer ersten Councilrunde auf der Wiese am Abend teilzunehmen, und sie nahm das Angebot an. Sie war neugierig und nach unserer Runde eröffnete sie uns, dass sie gerne an den unseren weiteren Aktivitäten teilnehmen würde. Für uns war es eine glückliche Fügung, denn Sabine war nicht nur in der Region aufgewachsen, sondern sie war im Flutgeschehen hautnah dabei, da das Haus ihres Bruders, nur wenige hundert Meter entfernt von uns, durch die Flut arg betroffen war und sie diese Tage intensiv als Zeugin erlebt hatte.
Für den Samstagvormittag hatten wir uns mit dem Pfarrer der Gemeinde Ahrweiler, Jörg Meyrer, verabredet der uns ins Pfarrhaus einlud und sich bereit erklärt hatte, uns aus seinem im Jahr nach der Flut entstandenen Buch „Zusammenhalten“ Passagen vorzulesen und mit uns darüber zu sprechen, wie es für ihn war, diese Tage und Monate danach erlebt zu haben.
Mit uns unterwegs als Teil der Gruppe war wieder Ulrike Helmer, die erneut und nun zum letzten Mal mit der Kamera dabei war.
Eine Begebenheit ist mir sehr im Gedächtnis geblieben: Er berichtete, dass nach den ersten großen Hilfsaktionen und als die not-wendigsten Maßnahmen getroffen waren und wirkten, die Menschen wieder begannen, die Begrenzungen und Zäune um ihre Grundstücke herum zu errichten, die bei der Flut zumeist zerstört und weggerissen worden waren. Es hat mich erschüttert, zeigt aber dennoch das starke Bedürfnis nach Abgrenzung und den Wunsch, wieder Normalität herzustellen.
Einen Monat vor unserem Besuch war nebenan im annähernd vollständig wiederaufgebauten historischen Stadtteil Ahrweiler die Pfarrkirche nach vier Jahren wiedereröffnet worden. Dort zeigte sich eindrücklich, wie es gelingen kann, einen zeitgemäßen Wiederaufbau zu gestalten, wenn alle beteiligten Parteien etwas schaffen können, das durch eine gemeinsame Vision genährt wurde. Pfarrer Meyrer zeigte uns das beeindruckende Ergebnis nicht ohne Stolz.
Unser Weg führte uns weiter, angeführt von Sabines Ortskenntnis, zum Ufer der Ahr und flussaufwärts in Richtung des nächsten Orts Walporzheim. Entlang der Ufer, die am gesamten Lauf des Flusses noch sich selbst überlassen sind und wo Wege, wenn überhaupt, nur notdürftig wieder angelegt wurden. Dadurch entstanden in den vier Jahren „neue Landschaften“, die Natur konnte sich ihren Raum in Flora und Fauna neu (oder wieder) zurückerobern. Auf der Suche nach einem geeigneten Ort für eine Councilrunde am Nachmittag fanden wir einen solchen Platz in Walporzheim, wenige Meter von der Ahr entfernt. Da, wo wir uns jetzt in wilder Umgebung niederließen, hatte sich vor der Flut der Sportplatz des örtlichen Fußballvereins befunden, von dem nichts mehr zu sehen war. Die Gelegenheit nutzten wir, um uns durch unsere mitgebrachten Lebensmittel ein Picknick herzurichten, bevor wir uns den Raum gaben, unsere Eindrücke vom Vormittag und entlang des Wegs im Council auszudrücken. Bereichernd waren für mich unterwegs und in unserer Runde die Begebenheiten und Einzelheiten, die Sabine aus ihrer Erinnerung aus der Zeit vor der Flut und aus ihrer Jugendzeit an all diesen Orten zu berichten wusste. Zeugnis Ablegen in Zeit und Raum, gespeist durch die visuellen Eindrücke, die immer wieder erschütternd waren.
Wir zogen weiter, überquerten die Ahr und die noch im Wiederaufbau befindliche Bahnlinie, um bergan hoch hinauf in die Weinberge zu steigen und auf einem Höhenweg zurück nach Bad Neuenahr zu wandern. Samstagnachmittag, und in den hoch gelegenen Weinstuben und Restaurants inmitten der unzähligen Rebstöcke herrschte reger Betrieb, und wir waren umgeben von weinseligem Geplärre und ausgelassener Stimmung. Seltsam, mit unseren doch sehr unterschiedlichen Anliegen damit konfrontiert zu sein. Dennoch fühlte es sich sehr heilsam an, zu sehen, wie sich die Menschen in der Region wieder ihr altes Leben auf diese Weise zurückerobert haben.
Zurück im Garten unserer Herberge bei Sabine reichte die Kraft nach etwa 15 Kilometern Weg und 10 Stunden unterwegs-sein nur noch für ein Abendbrot auf der Terrasse und anschließend in die Schlafsäcke.
Nach stürmischer und regennasser Nacht lag der Sonntag noch vor uns, zumindest bis zum geplanten Ende gegen 15 Uhr. Vorgesehen hatten wir, uns auf den Weg zum Haus von Sabines Bruder zu machen und dort in der Nähe Sabines Zeugnis über ihre Erlebnisse während und in den Tagen nach der Flut zu lauschen. Von dort aus ließen wir uns an einen geeigneten Ort führen, an dem wir unsere geplanten Zeremonien durchführen konnten.
In Sichtweise des Hauses von Sabines Bruder schilderte sie uns eindrücklich und selbst sehr bewegt, wie sie diese Tage erlebt hat. Sie wohnte zu dieser Zeit noch am Rhein nicht weit von Bad Neuenahr entfernt. Es ist kaum zu beschreiben, wie anhand des Schicksals einer Familie und denen der umgebenden Nachbarn zu spüren war, dass das Leben über Nacht ein anderes geworden war.
Danke Sabine, dass du den Mut hattest, über deine Erlebnisse vor uns Zeugnis abzulegen 🙏🏻!
Wir überquerten abermals die Ahr (alle Brücken mussten neu errichtet werden, ein Beispiel der von der Wucht der Wassermassen noch im Park liegenden Überreste einer solchen Fußgängerbrücke seht ihr als Beitragsbild) und fanden einen Platz, der uns im Schutz einiger Bäume geeignet erschien, um dort unsere geplanten Rituale durchzuführen. Patrick hatte Listen von durch die Klimakatastrophe betroffenen Arten und Orten verteilt, die wir im Kreis alle gleichzeitig murmelnd und mit der Lautstärke ansteigend verlasen. Eine Reminiszenz auch an die kürzlich verstorbene Joanna Macy! Wieder ein kraftvolles Erleben, das wir in dieser Form schon bei unserer ersten beiden Pilgerwegen gehabt hatten.
Zum Abschluss hatten Ulrike B. und ich uns im Vorfeld darauf vorbereitet, die Zeremonie der ZenPeacemaker „Gate of Sweet Nectar“ zusammen mit der Gruppe durchzuführen. Es ist immer wieder eindrucksvoll und bewegend, auf diese Weise Zeugnis abzulegen, inmitten eines Orts der Zerstörung und des Wiederaufbaus, inmitten eines Kurparks.
Unser letzter gemeinsamer Gang führte uns zurück zu unserem Ausgangsort in Sabines Garten. Zelte abbauen, unsere Sachen packen, ein letztes gemeinsames Mahl auf der Terrasse und eine letzte Runde im Kreis ließ uns erfüllt und bewegt zurück, im Nicht-Wissen wie es weiter geht…
Hier ein paar Eindrücke von unterwegs (alle Fotos ©Reiner Hühner, Dieter Müller und Patrick von der Hofstad):







Mein Dank geht alle die, die dabei waren und ihren je eigenen Beitrag geleistet haben:
Dieter, Dirk, Patrick, Sabine, Ulrike B., Ulrike H. und Wolfgang
🙏🏻🌈🕊️
Reiner Seido
Lieber Reiner,
wie wunderbar du mich mitnimmst auf Euren Pilgerweg, durch deine Beschreibung. Danke! Mir laufen die Tränen.
Dorle